Anscheinend in tiefes Nachdenken versunken, kaute der Referendaranwärter am Kugelschreiber. Gelegentlich auch hob er nach Beginn der Fünf-Stunden-Sitzung im Berliner Justizprüfungsamt das Schreibzeug. "als wolle er sich", so sah es ein Beobachter, "an der Nase puhlen". Zuweilen memorierte er halblaut Textpassagen -Strafrechtsklausur fürs Erste juristische Staatsexamen.
Eine Etage höher drehte derweil ein Postbediensteter die Peileinrichtung seines tragbaren Meßgeräts. Auf dem Zwei-Meter-Band ortete er einen Flüsterton: die Fallschilderung eines Verkehrsvergehens, Fragen nach Fahrerflucht und Urkundsdelikten -- der Text der laufenden Klausur-Arbeit, "exakt bis aufs Komma", so später Justizprüfungsamts-Präsident Wolfgang Ernst.
Auch die Gegenstelle. ebenfalls schon unter Peilkontrolle durch die Post, meldete sich mit einer Zwischenfrage. Dann verfügte sie Sendepause -- der Kontrollruf komme in 30 Minuten, die Lösung in zwei Stunden. Doch schon vor Ablauf dieser Frist war die Prüfung für den angehenden Juristen an jenem Vormittag des 7. November zu Ende. Vor die Tür gebeten, mußte er sein ungewöhnliches Handwerkszeug offenbaren: das Mikrophon im Kuli, den Minifunker am Bein und im Ohr, durch die Mähne verdeckt, ein umgebautes Schwerhörigengerät mit Induktionskappe.
Knapp fünfzig Meter Luftlinie entfernt, in den Büroräumen einer Firma Butzer am Wittenbergplatz 4, trafen Kripo und Staatsanwalt wenig später auf den Funkpartner, den Firmenchef persönlich, sowie einen über Gesetzestexten brütenden Juristen: Referendar Peter Meier, damals Teilzeitassistent für Öffentliches Recht an der FU und im Kollegenurteil "exzellenter Jurist", beschäftigte sich, so ein Fahnder, "gerade mit der Lösung des Falles".
Der Kasus war für die -- gezielt informierte -- Staatsanwaltschaft auf Anhieb klar, die Schummel-Variante neu. Aber strafrechtlich blieb, weil das Gesetz keine Prüfungsmanipulationen kennt, aus vordergründiger Sicht nur wenig mehr als ein Verstoß gegen das Fernmeldeanlagengesetz. Firmenchef und Betriebswirt Michael Butzer, 31, hatte für seine zugelassenen Funkgeräte nur die Lizenz zu "gewerblicher Nutzung".
Das vermeintliche Kavaliersdelikt gewann indes schnell Dimension. Zwar nahm die Staatsanwaltschaft dem nach eigenen Angaben von Butzer für 500 Mark "als Aushilfe" geheuerten Meier noch ab, daß es für ihn "eine einmalige Sache" war. Meier: "Ich habe mehr geschwitzt als bei meinem eigenen Examen." Doch bereits nach kurzen Ermittlungen war Oberstaatsanwalt Helmut Groß ebenso klar, "daß das wohl nicht der erste Vorfall war
Und nicht nur in eingeweihten Referendarkreisen machte sehr schnell die Runde, daß derartiger Funkverkehr sich schon seit geraumer Zeit quasi zum Bestandteil des Justizprüfungsverfahrens gemausert habe -- mal im Saal 129 des Kammergerichts, durch dessen dickes Gründerzeit-Gemäuer freilich die Funkwellen nicht in ausreichender Stärke durchzudringen vermocht hatten, mal im alten Prüfungsdomizil an der Hardenbergstraße, wo kurzzeitig ein angemieteter Arbeitsraum in der Nachbarschaft amtlichen Argwohn erregt hatte.
Wer indes Nutznießer und Drahtzieher solcher professionellen Prüfungshilfe war, ob sich in der Tat eine solche Prüfungsmafia mit Schummelgebühren von im Schnitt 10 000 Mark je Examen und bevorzugter Klientel bei "Schickeria und Kneipentypen" etablieren konnte, wie es Berliner Referendare und Studenten erkannt haben wollen -- diejenigen, die es wissen mußten, schwiegen.
Prüfungsamtschef Ernst jedenfalls schwant, daß auch so schon der "Nerv des ·Prüfungswesens" empfindlich getroffen sei, und auch Ankläger Groß setzt den Akzent: Im gesamten Komplex gäbe es sicher noch "gewichtigere Beteiligte".
Kaum war die UKW-Station abgeschaltet, geriet prompt ein Jungjurist, bei dem die Fahnder Know-how wie Motivation gleichermaßen vermuten, zur zentralen Verdachtsperson. Staatsanwalt und Polizei durchsuchten dreieinhalb Stunden zweimal Wohnung und Praxis des Berliner Rechtsanwalts Dr. Axel Joch, 31, wie Referendar Meier Teilzeitassistent im FU-Fachbereich 9 und gleichzeitig Repetitor mit einem gewissen "Ruf der Aktualität" (Joch).
Zwar war Joch zur Zeit des eigentlichen Funkverkehrs im Gericht. Der Jurist: "Ein besseres Alibi als die Gegenwart von drei Berufsrichtern gibt es nicht." Doch den Fahndern paßte der Anwalt allemal ins Indizienraster: Als Repetitor hatte er beide Funkpartner für die höheren juristischen Weihen präpariert, den Referendar in Butzers Funkraum seinerzeit gar "als besten Juristen meines Repetitoriums".
Auch das Büro Butzer war dem Anwalt nicht unbekannt. Als einer der Gründungsgesellschafter der vorgeblich für Maklereizwecke etablierten GmbH firmierte seine Frau. Im Handelsregister suchte die Staatsanwaltschaft bislang vergebens; der Eintrag der Firma ist noch nicht genehmigt.
Den Herrn Butzer wiederum, einen Nichtjuristen, glauben die amtlichen Prüfungswächter zusätzlich beim bisher einzig bekanntgewordenen Parallelfall geortet zu haben -- im Sommer dieses Jahres, wie jetzt in Berlin, als Funkhelfer in Göttingen. Dort nämlich war der zeitweilige Joch-Repetent Tom Bock nach zwei gescheiterten Berliner Examensanläufen beim dritten Versuch -- er wäre bei korrekter Anmeldung ohnehin nicht zugelassen gewesen -- aufgefallen. Trotz Hitze hatte er damals sein Jackett anbehalten, die argwöhnisch gewordenen Prüfer fanden schließlich darunter Sender, Kabel und Empfänger.
"Da mosert einer über angebliche Unkorrektheiten im Prüfungsverfahren". beklagt sich Joch, "schon hängt das natürlich immer mit Joch zusammen. Ein alter Hut." Ob qualifizierte Denunziation, ob haltloser Anwurf -- aktenkundig wurde Jochs Name bereits mehrfach:
So nach dem Examen eines von Joch getrimmten Hohenzollern-Prinzen, der Mitstreitern wie Prüfungsamtsbediensteten wegen der Diskrepanz zwischen Mündlichem und Schriftlichem aufgefallen war; so nach den Klausuren eines ebenfalls von Joch präparierten Fabrikantensohns, der während einer Klausur auffiel:
Zwei Stunden, so wurde dem Prüfungsamt hinterbracht, habe der Kandidat getrödelt, eine halbe Stunde vor Abgabefrist habe er dann eine für ihn bemerkenswerte Arbeit abgeliefert. Die justiz- und prüfungsamtsinternen Ermittlungen, insbesondere nach einem Loch im eigenen Hause, endeten jeweils ohne Befund.
Und Ähnliches prophezeit Anwalt, Assistent und Repetitor Joch im anstehenden Fall -- für ihn nur Produkt aus der Hexenküche von Uni-Demagogen, denen der leistungsflotte Kollege wohl als eine Art "Leichenfledderer der Studienreform" im Wege sei; so jedenfalls sieht sich Joch von Mit-Akademikern eingestuft.
Doch während die Staatsanwaltschaft vorsorglich in Jochs Kanzlei Examenshausarbeiten und Klausurtexte konfiszierte, zur Stützung ihres Verdachts der "Nicht-Versteuerung von Einkommen", blieb die Aufdeckung der Funkhilfe zumindest für Unbeteiligte schon jetzt nicht ohne Folgen. Die unverzüglich eingeleitete Leibesvisitation der 50 Kandidaten des Prüfungsgangs hatte nämlich in einem halben Dutzend Fällen auch herkömmliches Schmu-Material zutage gefördert: Spickzettel und Lösungs-Schemata. Die Betroffenen sind beim Prüfungsamt zur Vorsprache geladen.